„Digital ist besser“ scheint sich als allumfassende Antwort für die Herausforderungen unserer Zeit und als politische Agenda für die Zukunft aufzuzwingen. Mit einer naturähnlichen Selbstverständlichkeit begrüßen wir euphorisch den technischen Fortschritt und scheinen unsere einstige „prometheische Scham“ verloren zu haben
Bereits 1995 bringt die Hamburger Band Tocotronic diese konstitutive Kraft des Digitalen mit der Textzeile „Aber digital ist besser“ auf den Punkt.
Die Städtische Galerie greift diesen Euphemismus in ihrer ersten Kunstausstellung nach der Wiedereröffnung auf und zeigt Positionen von Künstler*innen, die sich mit der Verortungsfrage des Menschen zwischen Natur und Technik auseinandersetzen
Liv Schwenk
Toward the Water II
In ihrer Performance „Toward the Water II“ greift die Künstler Liv Schwenk den natürlichen Verlauf des Wassers von der Quelle bis zur Mündung auf und kombiniert diesen mit einer Bewegungsperformance. Diese findet zeitgleich an vier verschiedenen Orten auf der Welt statt. Beginnend an der Quelle des Neckars in Villingen-Schwenningen, gibt die Künstlerin über ein Live-Video eine Bewegung vor, die von einer Tänzerin in Albuquerque in New Mexico am Rio Grande aufgegriffen und um ein weiteres Bewegungselement ergänzt wird. Dieses wird wiederum an eine Tänzerin in Manila auf den Philippinen weitergegeben und endet schließlich bei Sonnenuntergang in der Stadt in Accra, Hauptstadt Ghanas
Zeitmaschine
Aufbau und Funktionsweise der Zeitmaschine von Lilith Becker erscheint banal: Eine Bürk-Uhr ist direkt mit dem Antrieb eines Fahrrads verbunden. Je nach Tretrichtung der Kurbel scheinen sich die Zeiger der Uhr sich entweder vor oder zurück zu bewegen. Die tatsächliche Erfahrung ist aber eine ganz andere – während zu Beginn die Frequenz des Tretens noch analog zur Richtung und Geschwindigkeit der Zeiger erscheint, merkt man im Verlaufe des Tretens schnell, dass die Zeitreise doch sehr zufällig ist. Mehr und mehr übernimmt ein Algorithmus eines zwischengeschalteten Raspberry Pi die Kontrolle über die Zeit, während der Tretende seine Frequenz mehr und mehr dieser Willkür unterbewusst anpasst. Es ist also weniger eine Zeitmaschine für Zeitreisen, als mehr eine Maschine für die Zeit.
Dead Star Gloom
Einer der komplexesten Arbeiten in der Ausstellung „Digital ist besser“ ist die dreiteilige Arbeit „Dead Star Gloom“ von Lilith Becker, die sich mit der dem Mondexperiment ALSEP (Apollo Lunar Surface Experiments Package) auseinandersetzt. In diesem wurde in den 70er Jahren eine Raketenstufe auf dem Mond zum Absturz gebracht und dadurch ein künstliches Mondbeben erzeugt. Die seismografischen Aufzeichnungen der Nasa dienen der Künstlerin als Ausgangsmaterial einer Skype-Performance, die zeitgleich in Australien und in Deutschland stattfindent. Auch dienen die Daten für eine Soundinstallation, in der die Künstlerin die Daten einzelnen Tönen zugeordet, um einen Aufprall akustisch zu unterstützen und so simuliert, wie ein Geräusch außerhalb des Vakuums sich anhören könnte. Die Poetisierung des Experimaents findet in einem dritten Teil statt, in dem die Künstlerin das Kinderlied „ich gehe mit meiner Laterne“ instrumentalisiert und die menschliche Überhöhung auf eine einfach Ebene zusammenbringt.
Flügelsenkung
Verbunden mit einem Flügel der bis zu 70 m über der Erde von einen Kran getagen wird, spielt die Künstlerin Lilith Becker ein Stück über das Abschiednehmen. Der Flügel senkt sich dabei langsam herab in einen sogenannten „Zwischenangriff“ der Baustelle Stuttgart 21. Jene größte Baustelle Europas, die heute Synonym für den Fortschritt und für das von Menschen machbare gesehen wird. Einen Bahnhof in die Erde zu verlegen ist ein Akt des Eingriffes in die Natur, welcher von Lilith Becker auf sehr poetische Weise aufgegriffen und thematisiert wird. In ihrer bildgewaltigen Arbeit und mit ihrer besonderen Stimme unterstreicht sie die besondere Atmosphäre der Performance auf der Baustelle.
Man kann die Zeit nicht zurückdrehen
Die Szene wirkt morbide: Nachdem die Künstlerin mit ihrer Stimme offeriert, dass die Zeit nicht zurückgedreht werden kann, springt sie aus einem fahrenden Zug in den sicheren Tod. Diese dramatische Abfolge wirkt allerdings wenig glaubhaft, da das Video offensichtlich rückwärts produziert wurde. So wurde die Zeit der Aufnahme digital vorgedreht, um den Eindruck eines normalen Zeitablaufes zu erzeugen. Die Lebensweisheit „Man kann die Zeit nicht zurückdrehen“ wird dadurch auf eine ironische Weise hinterfragt, da die Zeit im Video offensichtlich manipuliert wurde. So erscheint die ausweglose Situation und das physikalische Gesetz, vor dem Hintergrund der Machart dieses Videos vielleicht doch nicht so alternativlos.
Johanna Mangold
you could throw a kaenga
Einen Raum zwischen Realität und Traum zu öffnen, dies versucht die Künstlerin Johanna Mangold in einem Selbstexperiment mit verschiedensten Techniken und Substanzen. Die Untersuchungsergebnisse präsentiert sie in einem 188-seitigen Konvolut aus Zeichnungen und Texten, welches für sie als eine Art Logbuch ihrer Bewusstseinszustände dient. Dem künstlerischen Eigenwert der Zeichnungen stellt die Künstlerin die Möglichkeit der Virtual-Reality-Modellierung gegenüber und bietet den Betrachter*innen der Ausstellung eine Möglichkeit an, den Erfahrungsraum zwischen Realität und Traum zu betreten. Mit einem erweiterten Bewusstsein komplexe Überwirklichkeit von Traumzuständen erfahrbar zu machen, bewegt sich die Künstlerin Johanna Mangold in der surrealistischen Tradition der frühen 20er Jahre. Sowohl mit den neuen technischen Mitteln der von ihr selbst entwickelten VR-Anwendung, wie auch mit ihrer gekonnten zeichnerischen Geste, gelingt es ihr auf eindrückliche Weise eine träumerische Realität zu schaffen.
Newtons Buddha
Stoisch winkt die Katze in der Arbeit von Olsen „Newtons Buddha“ und scheint auf magische Weise durch ihren Arm das Newtonpendel anzutreiben. So unspektakulär diese Schreibtischszene wirkt, so wissenschaftlich spektakulär ist das Gesehene: Nur durch das Winken der Katze wird ohne tatsächliche Berührung das Kugelpendel endlos angetrieben. Damit widerspricht die Szenerie den Energieerhaltungssatz und kann so gar nicht real sein. Olsen hat mit seiner künstlerischen Arbeit eines der wichtigsten Prinzipien aller Naturwissenschaften und Technik hinterfragt und realisiert das erste Perpetuum mobile.
Weltgrößte Kuckucksuhr (digital)
Mitte des 20. Jahrhunderts apostrophierte sich die Stadt Schwenningen als „die größte Uhrenstadt der Welt“. Mit der „weltgrößten Kuckucksuhr“ spielt der Künstler Olsen mit diesem historischen Superlativ und kombiniert diesen mit einem weiteren: Er installiert an der Fassade der Städtischen Galerie mit fast sieben Meter Höhe und sechs Meter Breite die tatsächlich weltgrößte Kuckucksuhr. Die Besonderheit dieser Uhr ist, dass sie nur ein Marker darstellt, der erst durch eine Applikation zum Leben erweckt wird. Und einmalig ist auch, dass nicht jede Stunde ein Kuckuck die Zeit verkündet, sondern Kuckucke aus über 30 Ländern der Welt in die digitale App gestreamt werden. So ist es nicht nur die weltgrößte, sondern auch die weltumspannenste Kuckucksuhr.
Lambda-Lambada (Nullen und Einsen)
Das beständige Winken der Maneki-neko-Katzen löst in der Arbeit „Lambda-Lambada (Nullen und Einsen)“ des Künstlers Olsen ein gleichmäßiges Klack-Geräusch aus. Aufgrund der unterschiedlichen Länge der Winkarme ist dieser Sound von Katze zu Katze in einer unterschiedlichen Frequenz, so dass die Geräusche der Rauminstallation im ersten Moment des Erkundens mit denen eines Tischtennisturnier vergleichbar sind. Lässt man sich auf die Einfachheit der Klänge ein und bewegt sich innerhalb des Raums umher, so wird die Unordnung der Klänge mehr und mehr zu einer gleichmäßigen Ordnung von Tönen. Mit viel meditationsartiger Geduld erreicht man schließlich einen Moment der scheinbaren Synchronität, in dem sich die Klänge wie eine Lambda-Kurve durch den Raum gleichmäßig bewegen. Das Prinzip der Zustände – Ton an oder Ton aus – spiegelt das Grundprinzip des Digitalen – Null oder Eins – wider. Der von den glücksbringenden Katzen ausgelöste Lambada-Tanz der Töne ist also auch als eine verheißungsvolle Erwartung in die Zukunft zu verstehen. In diesem Erkenntnismoment wirkt die Synchronität der Katzen für viele Besucher*innen fast schon bedrohlich.
Apollo 11 (Edition ungelesene Packungsbeilage)
Fast hätte ein Computerfehler die Landung von Apollo 11 auf dem Mond verhindert und so war es eine menschliche spontane Entscheidung, die schließlich zum Erfolg der Mission führte. 50 Jahre danach gibt der Künstler Olsen in seiner Arbeit „Apollo 11 (Edition ungelesene Packungsbeilage)“ dem Computer eine neue Chance sein Können zu beweisen: Olsen kauft fünf Revell-Modellbausätze der Apollo 11 und baut diese nicht nach Packungsbeilage selbst zusammen, sondern überlässt einem selbstgeschriebenen Computeralgorithmus die Arbeit. Die Ergebnisse scheinen sehr weit entfernt von einer Weltraumrakete zu sein, dafür aber sehr nah an der Ästhetik von künstlerischen Plastiken.
„Autofrei.app“
Mit seiner Arbeit „AutoFrei-App“ zeigt uns der Künstler Olsen, wie die Welt ohne Autos aussieht und hält uns den Spiegel vor, wie viel Platz wir in unseren Städten dem individuellen Autoverkehr einräumen. Die „AutoFrei-App“ ist aber nicht nur eine geniale Auseinandersetzung mit der Nachhaltigkeit im urbanen Raum, sondern sie zeigt uns welche Erkenntnisse wir aus der erweiterten Realität tatsächlich gewinnen können: Auch wenn das Szenario nur in dieser virtuellen Realität existiert, so sind die daraus gewonnenen Erkenntnisse und beeindruckenden Raum- und Bilderfahrungen real übersetzbar. Olsen zeigt uns, den Betrachter*innen der Arbeit, wie digitale, bildgebende Verfahren Transformation beeinflussen und steuern können. Dementsprechend „befreit“ die AutoFrei-App nicht nur virtuell die Stadt von den Autos, sondern entfernt auch diese aus unseren tradierten Vorstellungen.
Darsha Hewitt
Armour, Tower, Lookout
Armor ist eine Installation, die aus 12 gebrauchten Motorhauben des Rasenmähers Trolli 35 besteht, die auf Sockeln unter Acryl-Displays montiert sind. Der Trolli war einer der Standard-Rasenmäher, die in der ehemaligen DDR von 1962-1989 hergestellt und verwendet wurden. Diese Arbeit behandelt diese gebrauchten kriegerhelmähnlichen Objekte wie von der Zeit getragene historische Artefakte und provoziert Fragen zu ihrer Funktionalität und Vergangenheit. In der Installation Tower und Lookout sind wiederrum fotografische Arbeiten, die die Motorhaube des Rasenmähers Trolli 35 in die hochauflösende Umgebung des heutigen Unterhaltungselektronik-Designs und der Marketing-Ästhetik überführen.
Städtische Galerie
der Stadt Villingen Schwenningen
Friedrich-Ebert-Straße 35
78054 Villingen-Schwenningen
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